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THESEN DER TEXTKRITIK

Die 12 Thesen zur Textkritik

von Klaus von Welser

I. Es gibt zwei Arten von Kritik:
a) Textkritik, sie wendet sich an den Autor;
b) Rezension, sie wendet sich an das Publikum.

Diese (b) ist ein weites Feld,
jene (a) findet im Forum statt.

II. Aufgabe der Textkritik ist nicht prügeln oder streicheln, sondern Ohrenspitzen.

III. Textkritik orientiert sich nicht am Geschmack des Kritikers,
sondern an der Intention des Autors.

IV. Textkritik vergleicht Intention des Autors mit dem,
was er erreicht hat. Sie trennt zunächst zwischen:
1. was wollte der Autor?
2. was konnte der Autor?

V. Der Idealfall für die Textkritik ist die Übereinstimmung des Getrennten
(1 und 2), entweder, weil die Antwort auf beide Fragen übereinstimmend
"nichts" lautet, oder weil ein Kunstwerk vorliegt.

VI. Bevor er dem Autor Verbesserungsvorschläge zumutet und ins Detail geht, sollte der Kritiker den Text orten, nicht, um ihn zu etikettieren, sondern damit er nicht vom Apfelbaum Birnen einklage. Auch behält der Autor das Recht, etwas Neues zu machen (Tomoffeln oder ganz Unerhörtes).

VII. Auch für Kritik gibt es Kriterien, z.B.:
"Um jemanden zu verstehen, der sich nur halb versteht, muss man ihn erst ganz und besser als er selbst, dann aber auch nur halb und gerade so gut wie er selbst verstehen." (Friedrich Schlegel)
Der Autor zum Kritiker: Dein Urteil ist Dein Urteil!

VIII. Der Kritiker zum Autor: Ich kann zwar kein Ei legen, aber nachschauen, ob es faul ist.

IX. Der Kritiker soll nicht (besser) machen, sondern wahrnehmen - zuweilen auch die Interessen des Autors gegen dessen eigene Befangenheit.

X. Es gibt mehr gute Autoren als gute Kritiker. Man kann auf Anhieb 10 respektable Autoren angeben, nicht aber 10 akzeptable Kritiker. Daraus folgt nicht, dass Kritiker überflüssig sind.

XI. Gerecht ist ein Tadel, wenn er einen Begriff vom Besseren gibt. Der Hochmut der Kritiker ist, dass sie diesen Begriff zu haben glauben, aber nicht zu geben wissen.

XII. Sofern man schreiben lernen kann, kann man auch Kritik lernen. Kritik muss geübt werden.