Klaus v. Welser: Lichtenberg

Vom allen, die ich gelesen habe, ist er mir der liebste. Lieber als zum Beispiel Goethe, der gewiss größer war. Aber was will das heißen, „größer“? Das kann man nicht vergleichen, sagen die Leute, die beiden sind zu verschieden. Doch, halte ich dagegen, alles läßt sich vergleichen, wenn man den Vergleichspunkt findet. Und was ist der Punkt? Der Punkt ist das spürbare Persönliche, Lichtenberg ist der Persönlichste von allen. Wenn Sie anfangen, ihn zu lesen, werden Sie merken, wie der denkt, als wenn er hörbar anwesend wäre. Ich habe vieles von ihm erst später begriffen, und einiges auch heute noch nicht, aber ich spürte bald: der hier kann dich mitnehmen – während der Verfertigung seiner Gedanken beim Reden. Goethe ist schöner zu zitieren, Lichtenberg ist schöner zu lesen, das heißt einfach praktisch: Ich kehre öfter zu Lichtenberg zurück, um einen Abend mit ihm zu verbringen.

Es liegt wohl daran, daß Lichtenberg kein Literat ist. Im Gegenteil, über literarische Moden (damals „Sturm und Drang“) und ihren Geniekult machte er grimmige Witze. Insofern ist er der Vorläufer der Medienkritik, die es in Deutschland auch heute noch nicht gibt. Er sagt zum Beispiel: „Jeder ist einmal des Jahrs ein Genie, er weiß es nur nicht.“ Ich glaube, er meint das völlig ernst. Lichtenberg interessiert sich für das Leben wie es ist. Er hält den normalen Menschen allen Ernstes für interessanter als das hochgezüchtete „Zwergobst“, das sich gern Elite nennt. Aber nicht aus proletarischem Reflex, sondern weil er deutlich wahrnimmt, daß selbst ein ganz gewöhnliches Leben nicht bestanden wird ohne besondere Leistungen, fast könnte man sagen ohne Wunder.

Lichtenberg, geboren 1742, gestorben 1799, ist Physiker in Göttingen und wie sein Zeitgenosse Goethe mit Leidenschaft Naturwissenschaftler. Aber im Gegensatz zu Goethe sieht er, daß gegen die Beweisketten wissenschaftlicher Forschung kein Kraut gewachsen ist. Goethe wehrte sich bloß (z. B. gegen Newton), Lichtenberg dagegen rechnet hoch und denkt weiter und schreibt: „Von der Verwandlung des Weins in Wasser vermittels Zirkel und Lineal.“ Insofern ist Lichtenberg, obwohl früher geboren, der modernere. Er weiß, dass unsere Wissenschaft dazu führen wird, daß wir uns die Wunder der Bibel anmaßen werden.

Sein Hauptthema ist die Hell-Dunkel-Grenze. Nicht das, was schon im Hellen ist, das wir Wissen nennen, und nicht das, was noch im Dunkeln liegt, weil wir es nicht wissen können, sondern das, was wir meinen, ohne recht zu wissen und zu glauben. Denn dort zeigt sich, wes Geistes Kind ein Mensch ist. Über Wissen zu streiten, lohnt nicht, denn es ist nur eine Frage der Bildung; über Glauben zu streiten, lohnt erst recht nicht, denn es ist eine Frage der Herkunft. Aber wie einer in den weiten Räumen des Halbwissens sich orientiert, und was ihm dort dämmert, das entscheidet. Und Lichtenberg läßt sich manches träumen, das heute noch nicht zu Ende gedacht ist. Der Bogen seines Denkens reicht bis zum dem 100 Jahre später lebenden Nietzsche, und ein Professor des 20. Jahrhunderts behauptet sogar, daß auch die Philosophie Wittgensteins bei Lichtenberg ihre Fundamente habe.

In diesem Hell-Dunkel-Bereich ist der Aphorismus das ideale sprachliche Arbeitsmittel. Lichtenberg aktualisiert diese bereits in der Antike bekannte Form philosophischen Denkens (Heraklit, Hippokrates), die sich subversiv gegen das Zwanghafte der großen Denksysteme richtet. Nachdem sie in Frankreich bereits zu einer anerkannten Literaturgattung avanciert war (La Rochefoucauld), bringt er sie in Deutschland zur literaturfähigen Reife. Aphorismen werden Partisanen des Geistes, die hinter den scheinbar sicheren Linien der landläufigen Ansichten operieren. Die Sprache schlägt Funken. Das Besondere dabei ist, daß das Ausgangsmaterial unser aller gedankenloser Sprachgebrauch ist. Plötzlich zeigt der Meister, daß auch der tumbe Stein des üblichen Wortgerölls in Wahrheit Feuer hat: damit wir selber denken.

 

(aus Puppet Players, Der Finsternis-Handel, nach Georg Christoph Lichtenberg. Programmheft, München 1999)